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Portraits einer Berliner Straße: 100 Bewohner der Eisenacher Straße in Schöneberg

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In den letzten 15 Jahren haben wir hier auf iHeartBerlin so viele wunderbare Porträtserien über Berliner*innen gemacht: ob nackt, kreativ, U8-fahrend, durchs Fenster oder verliebt – es gibt sie wirklich in allen Lebenslagen zu finden und zu portraitieren.

Heute möchten wir euch eine brandneue Porträtserie mit dem Titel “Eisenacher Hundert” vorstellen, und dieses Mal hat das Konzept gleich einen doppelten Clou parat. Nicht nur, dass alle in dieser Serie porträtierten Personen in derselben Straße wohnen, sie repräsentieren auch alle unterschiedlichen Altersstufen zwischen 1 und 100. Dies könnte also die generationenübergreifendste Serie sein, die wir bisher vorgestellt haben.

Die Straße, um die es geht, ist eine der charmantesten und schönsten Straßen Berlins: Die Eisenacher Straße in Schöneberg. Die Bewohner*innen dieser Straße könnten unterschiedlicher nicht sein, und das natürlich nicht nur wegen ihres Alters, sondern sie vereint Urgesteine und Zugezogene und Menschen aus allen Schichten des Lebens. Der Fotograf John Kolya Reichart wohnt natürlich selbst in der Eisenacher Straße, und die Serie gab ihm die Möglichkeit, seinen Kiez und seine Nachbarn wirklich kennen zu lernen.

Diese fantastische Porträtserie ist ab heute bis zum 29. Juli 2022 als Ausstellung im TAMSCHICK MEDIA+SPACE LAB in der Eisenacher Straße 57 zu sehen. Die Eröffnung ist heute um 17 Uhr. Zu jedem Porträt gibt es auch eine kleine Geschichte der Person, die einen kleinen Einblick in das Leben der Menschen der Eisenacher Straße gibt. Einige von ihnen sind wirklich bewegend, auch wenn es nur kurze Kommentare sind. Unten haben wir eine kleine Vorschau auf die Serie für euch, wir hoffen, sie macht euch neugierig auf mehr…

 

Fjodor, 10

Schüler

“Ich lese gerne gruselige Comics, liebe es, laut singend im Auto durch Berlin zu fahren und mache viel Sport mit meinen Freunden. Und ich gehe natürlich in die Schule, das ist eigentlich meine Hauptbeschäftigung. Ich bin kein leiser Typ. Das muss man leider sagen. Aber auf diesem Bild finde ich, dass ich sehr leise aussehe. Und eher ruhig als wild.”

 

Loulou, 17

Schülerin

“Ich gehe in die zwölfte Klasse. Das macht jetzt nicht so mega Spaß, aber ich will mein Abitur auf jeden Fall schaffen. Und das werde ich auch ganz bestimmt. In letzter Zeit habe ich das Verlangen, aufs Land rauszugehen. Wir haben da so ein schönes Häuschen und sind dort oft an den Wochenenden. Und das ist immer schön, weil man viel draußen in der Natur ist und den Kopf frei kriegt.”

 

Samuel, 21

Fotograf & Retoucher

“Als ich aufgewachsen bin mit Deutschen in meinem Heimatstädtchen, war ich zwar nicht der Außenseiter, aber ich war anders. Und ich wusste das. Und ich dachte immer: Ja klar, du musst dich anpassen. Du musst so aussehen wie ein Deutscher. Du musst dich auch so benehmen. Und als ich dann ausgezogen bin nach Hamburg, habe ich das erste Mal gemerkt, durch Freunde und durch die Stadt, das muss ich gar nicht! Ich muss mich gar nicht anpassen. Ich bin perfekt so wie ich bin. Und da hatte ich auch zum ersten Mal so richtige Touchpoints mit der afrikanischen Seite in mir. Ich habe dann angefangen, mir zwischendurch Braids zu machen, hab’ mir verrücktere Klamotten gekauft, hab’ Freunde kennengelernt, die sich einfach ausleben. Ich fand das geil und dachte: Wieso soll ich mich entscheiden und mich anpassen? Ich kann doch einfach zehn verschiedene Persönlichkeiten haben und zehn verschiedene Looks. Ob das jetzt lange Haare sind, ein Afro, Curly Hair, ob ich heute mal casual rumlaufe mit ‘nem Anzug oder meinetwegen auch mit ‘nem Rock, whatever… Ich mache das, worauf ich gerade Bock hab’ an dem Tag und dann gefällt’s mir auch!”

 

Flavio, 31

Sexarbeiter*in

Ich sehe ihn an einem Samstagmorgen. Allein sitzt er auf einem Mäuerchen am Regenbogenplatz, wirkt irgendwie entrückt. Aber etwas an ihm fasziniert mich. Ich fasse Mut, gehe auf ihn zu und frage, wie er heißt. »Flavio«, antwortet er aus übernächtigten Augen. Ich erzähle von meinem Projekt und frage, ob ich ihn fotografieren darf. Flavio denkt einen Moment nach und sagt mit ruhiger Stimme: »Nicht so.« Er wolle sich erst ein paar Stunden hinlegen, sich frisch machen und umziehen. »Okay,« sage ich, »und wann treffen wir uns wieder?« Wir einigen uns auf 15 Uhr. Flavio packt seine Sachen zusammen, setzt sich auf sein Fahrrad und fährt davon… Um 15 Uhr stehe ich wieder da und warte. Doch von Flavio keine Spur. Erst jetzt fällt mir auf, dass ich gar keine Nummer von ihm habe. Es vergehen die Stunden, doch Flavio taucht nicht auf. Immer wieder will ich gehen, doch irgendwas hält mich zurück. Und schließlich, da sehe ich ihn, wie er auf seinem Fahrrad auf mich zufährt: Er trägt einen Hut, darunter eine strahlend blonde Perücke und sieht noch hinreißender aus als am Morgen.

Text von John Kolya Reichart

 

Thomas, 37

Projektleiter in der Unternehmensentwicklung

“Wen ich da sehe? Jemanden, der seinen Weg sucht zwischen den beiden Welten Gasometer und St. Gallen. Da komm ich nämlich her, von der anderen Seite des Bodensees. Da ist Berlin jetzt nicht so der große Schritt in Bezug auf Schweiz – Deutschland, sondern eher in Bezug auf kleine Stadt – Riesenstadt. Und genau das wollte ich auch, dieses großstädtische Flair mit allen Möglichkeiten: Theater, Kinos, Restaurants, Bars. Und trotzdem hast du auch deinen Rückzug hier im Kiez. Das finde ich echt eine Super-Mischung in Berlin. Aber ich vermisse die Berge. Die gibt’s ja wirklich gar nicht hier. Und jedes Mal, wenn ich zurück in der Schweiz bin, dann mache ich als Erstes einen Ausflug in die Natur, um diese Sehnsucht zu stillen.”

 

Carolin, 47

Besitzerin eines Friseursalons

“Dieser Kontakt mit den verschiedenen Menschen, also junge Leute, alte Leute, Leute von überallher, das liebe ich sehr an meinem Beruf. Und das passt auch gut zu mir, würde ich sagen, weil ich sehr positiv bin und lustig. Aber auf dem Foto sehen meine Augen traurig aus. Und ja, ich bin auch traurig, natürlich. Traurig wegen dem Tod meines Papas. Das hat mich schon sehr geknickt. Aber sonst kann mich keiner knicken. Und krumm werde ich niemals durch mein Leben laufen!”

 

Lars, 48

Masseur

“In der Schule hatten wir eine Musiklehrerin, die gesagt hat: ›Lars, du kannst nicht singen. Wenn die Klasse singt, sei lieber ruhig.‹ Programmierung, klar: Du kannst nicht singen. Ich weiß nicht, vielleicht kann ich’s ja doch. Vielleicht bin ich der geborene Opernsänger. Keine Ahnung. Aber das kann ja mit allen anderen Dingen auch so sein! Ich habe gemerkt, man versteckt sich vor seiner eigenen Größe. Jahrelang hab ich gedacht: Du kannst nicht mit Menschen umgehen. Das kannst du den Menschen gar nicht antun. Ja und heute mach’ ich genau das Gegenteil. Ich bin den Menschen so nah wie kaum ein anderer. Nicht mal ein Arzt ist den Menschen so nah wie ich als Masseur. Und ich kann das gut. Die Leute mögen das. Die mögen meine Gegenwart und die mögen von mir behandelt zu werden. Das ist für mich ein Riesenschritt gewesen. Hätte mir das vor zehn Jahren jemand erzählt, ich hätte gesagt: ‘Bist du wahnsinnig? Nie im Leben.’ ”

 

Getrud, 95

Verkäuferin im Kaufhaus i. R.

“Meine Wohnung in der Eisenacher Straße, die vermisse ich so sehr. Seit 1965 wohne ich da. Und jetzt bin ich hier bei meiner Tochter, weil ich allein zuhause gestürzt bin und ich liege im Bett und lese. Ich lese und ich lese. Ach ja, wenn ich nur einmal heimkönnt! Aber meine Tochter sagt, wenn ich einmal heimkomme, dann komme ich nie wieder zurück. Ich hab’ 17 Jahre bei Karstadt gearbeitet. War immer fleißig und immer schnell. Dazu hab ich die Kinder großgezogen und den Haushalt gemacht. Aber vor allen Dingen hatte ich zwei schöne Männer: Den Vater meiner Tochter 30 Jahre lang. Und meinen zweiten Mann 17 Jahre lang. Aber beide sind verstorben. Manchmal denke ich, ich möchte im Himmel sein oder in der Eisenacher. Was ist nun besser? Aber ich geh’ noch nicht in den Himmel, ich bleib noch hier. Und ich kämpfe noch.”


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